Foto: Ralf Gosch/AdobeStockphoto.com

Um den Versicherungsschutz bei Wegeunfällen wird häufig gestritten. Grundsätzlich ist bei Wegeunfällen nur der direkte Weg vom Wohnort zum Arbeitsplatz und zurück versichert. Wer von diesem direkten Weg abweicht, hat nur in Ausnahmefällen noch den Versicherungsschutz für Wegeunfälle aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hatte einen Fall zu entscheiden, bei dem der Arbeitnehmer auf dem Rückweg vom Arbeitsplatz aufgrund einer durch Unterzuckerung ausgelösten Orientierungslosigkeit auf einen Abweg geraten ist. Nach Auffassung des LSGs scheidet hier der Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung aus (Urteil vom 12.04.2024; Az. L 14 U 164/21).

 

Der Sachverhalt

Geklagt hatte ein Mann, der auf dem Rückweg von der Arbeit einen schweren Verkehrsunfall erlitten hat. Er geriet mit seinem Pkw auf die Gegenfahrbahn und stieß frontal mit einem Lkw zusammen, wobei er erhebliche Verletzungen erlitten hat. Der Notarzt stellte bei dem Arbeitnehmer eine erhebliche Unterzuckerung fest. Die Berufsgenossenschaft (BG) lehnte die Anerkennung eines Wegeunfalls ab, da der Mann vier Kilometer über seinen Wohnort hinaus unterwegs gewesen sei. Nach Auffassung der BG habe sich der Mann deshalb auf einem nicht mehr versicherten Abweg befunden und hat deshalb einen Versicherungsfall abgelehnt.

Der Arbeitnehmer hielt dem entgegen, dass er an Diabetes leide. Zum Unfallzeitpunkt sei er stark unterzuckert und orientierungslos gewesen. Aus diesem Grund sei er an seiner Wohnung vorbeigefahren und auf einen Abweg geraten. An die Einzelheiten habe er aufgrund seiner Gesundheitsbeeinträchtigung keine Erinnerung mehr.

Entgegen der Auffassung der beklagten Berufsgenossenschaft hat das erstinstanzliche Sozialgericht der Klage des Arbeitnehmers gegen die BG stattgegeben und ist von einem versicherten Wegeunfall ausgegangen. Auf die Berufung der BG hin hat das LSG die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung hat das LSG allerdings die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen.

 

Die Entscheidungsgründe

Arbeitsunfälle sind grundsätzlich Unfälle von versicherten Arbeitnehmern, die sich bei einer versicherten Tätigkeit zutragen. Nach § 8 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VII gehören zu den versicherten Tätigkeiten auch das Zurücklegen des unmittelbaren Weges vom Wohnort zur Arbeitsstätte und zurück. Das Gesetz lässt hier nur wenige Ausnahmefälle zu. Ein vom Versicherungsschutz umfasstes Abweichen vom direkten Weg ist den Beschäftigten erlaubt, wenn Kinder der Versicherten zur Betreuung, zum Kindergarten oder zur Schule gebracht werden oder wenn sich die Versicherten zu einer Fahrgemeinschaft zusammenfinden. Dann sind auch die Umwege zum Abholen der Mitfahrer an den jeweiligen Wohnorten vom Versicherungsschutz noch umfasst.

Wer auf der Fahrt zur Arbeitsstätte oder auf dem Rückweg den direkten Weg verlässt, verliert damit den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn wegen zu erledigender Einkäufe vom direkten Weg abgewichen wird und damit Umwege gefahren werden. Auch eine Unterbrechung des Weges für mehr als zwei Stunden, z. B. das Aufsuchen einer direkt am Weg gelegenen Gaststätte, führt zur Unterbrechung des direkten Weges und damit zum Verlust des Versicherungsschutzes, auch wenn dann nach der Unterbrechung wieder auf dem direkten Weg zurückgefahren wird.

 

Irrtümliche Abwege als besondere Fallgruppe

Ausnahmsweise lässt die Rechtsprechung den Wegeunfall­versicherungsschutz dann nicht entfallen, wenn der Versicherte irrtümlich auf einen Abweg gerät und wenn der Irrtum auf äußeren mit der besonderen Art des Weges verbundenen Gefahren beruht. Hierunter zählt die Rechtsprechung das Abkommen vom direkten Weg bei Dunkelheit, Sichtbehinderung durch Nebel, schlecht beschilderte Wege, Umleitungen oder dergleichen. Das Verirren resultiert in einem solchen Fall aus den Umständen, die sich gerade aus der äußeren Beschaffenheit des Verkehrsraums und den damit verbundenen Gefahren ergeben. Ein solcher irrtümlicher Abweg ist deshalb noch vom Schutzzweck der Wegeunfall­versicherung umfasst. Abzugrenzen hiervon sind eigenwirtschaftliche Gründe, wie z. B. Unaufmerksamkeit aufgrund einer angeregten Unterhaltung, ein privat veranlasster Umweg und Ähnliches.

 

Innere Ursachen: Kein Versicherungsschutz

Im vorliegenden Fall ist der Kläger allerdings nach Auffassung des LSGs nicht aufgrund äußerer, mit der Beschaffenheit des Weges zusammenstehender Gründe von dem direkten Weg von der Arbeitsstätte zur Wohnung abgewichen. Der Kläger beruft sich allein darauf, dass er infolge einer Orientierungslosigkeit bzw. Verwirrtheit aufgrund einer diabetesbedingten Unterzuckerung irrtümlich auf den Abweg gelangt sei. Das Gericht hat daher angenommen, dass nicht ein Umstand, der mit der Beschaffenheit des Arbeitsweges zusammenhängt, verantwortlich für den Abweg gewesen ist, sondern allein Gründe in der Person des Klägers. Hier ist konkret seine Diabeteserkrankung gemeint und gegebenenfalls die mangelnde Aufnahme von Kohlenhydraten vor und während der Fahrt. Damit sei der Irrweg nicht mehr der Fahrt als solcher, sondern dem unversicherten, eigenwirtschaftlichen Bereich zuzurechnen. Nach Auffassung des LSGs hat sich daher keine wegtypische Gefahr verwirklicht, sondern der Abweg ist allein aufgrund innerer, dem Kläger selbst zuzurechnender Umstände entstanden. Allein aus privatwirtschaftlichen Gründen veranlasste Wegestrecken oder Unterbrechungen des unmittelbaren Weges sollen daher nicht mehr unter den gesetzlichen Unfallversicherungsschutz fallen.

Allerdings hat das LSG die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen. Das LSG misst der Rechtsfrage, ob ein Abweg, der aufgrund einer Bewusstseinsstörung bzw. Orientierungslosigkeit infolge einer Unterzuckerung eingeschlagen wird, noch unter den Schutz der Wegeunfallversicherung fallen könnte, grundsätzliche Bedeutung bei.

 

Für die Praxis: Vorteile der gesetzlichen Unfallversicherung

Arbeitnehmer sind durch die gesetzliche Unfallversicherung besonders geschützt. Bei einem Arbeitsunfall und auch bei einem Wegeunfall zahlt die gesetzliche Unfallversicherung die Kosten für die ärztliche Heilbehandlung anstelle der Krankenkasse, ferner die erforderlichen Kosten für Arzneien, Verbands- und Hilfsmittel, für Aufenthalte im Krankenhaus oder in Rehaeinrichtungen sowie für Physio- und Psychotherapie.

Zudem erhält der Verunfallte ein Verletztengeld. Dieses beträgt 80 % des entgangenen Bruttoentgelts bis zur Höhe des Nettolohns und wird für höchstens 78 Wochen gezahlt. Damit ist das Verletztengeld höher als das Krankengeld, da dieses nicht mehr als 70 % des Bruttoentgelts beträgt.

Wer nach einem Unfall oder durch eine Berufskrankheit pflegebedürftig wird, erhält von der Unfallversicherung ein Pflegegeld. Damit sollen die Kosten für eine häusliche Pflegekraft oder eine Heimpflege bezahlt werden. Die Höhe hängt vom Grad der Pflegebedürftigkeit ab. Wer einen dauerhaften Gesundheitsschaden erleidet, kann zudem eine Unfallrente erhalten.

Wenn der Arbeitnehmer aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit stirbt, wird zudem eine Hinterbliebenenrente gezahlt. Auch bei Berufskrankheiten erhält der Versicherte Leistungen der Berufsgenossenschaft.

Selbstständige Unternehmerinnen und Unternehmer unterfallen nicht dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Sie können sich allerdings auf Antrag freiwillig versichern, um auch in den Genuss der Vorteile der gesetzlichen Unfallversicherung zu kommen.

 

Versicherungsschutz im Homeoffice

Im Homeoffice und beim mobilen Arbeiten besteht grundsätzliche der gleiche Schutz wie bei der Arbeit in einer außerhäuslichen Betriebsstätte.

Die Unterscheidung zwischen privaten und dienstlichen Tätigkeiten ist im Homeoffice allerdings deutlich schwieriger, denn sie gehen teilweise nahtlos ineinander über. Nur Tätigkeiten, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der Arbeit stehen, fallen daher unter den Versicherungsschutz. Darunter fällt z. B. der Gang zum Drucker oder das Prüfen der Internetverbindung, wenn diese für dienstliche Zwecke gebraucht wird.

Auch der Gang zur Toilette sowie zum Essen, beispielsweise in die heimische Küche, sind versichert, allerdings nicht der Aufenthalt in der Küche selbst oder das Kochen im Homeoffice. Hier handelt es sich wiederum um privatwirtschaftliche Tätigkeiten.

Wege vom Bett zum häuslichen Schreibtisch unterfallen ebenfalls dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Private Tätigkeiten, die zu Hause nebenbei erledigt werden, sind nicht mehr versichert. Wer z. B. ein privates Paket an der Haustür entgegennimmt und dabei die Treppe herunterfällt, hat keinen Versicherungsschutz. Auch hier beschäftigen die Abgrenzungsfälle seit Jahren die Gerichte.

 

Fazit

Der Schutz aus der gesetzlichen Unfallversicherung bei Arbeitsunfällen und Wegeunfällen ist für Arbeitnehmer sehr weitgehend und günstig. Schwierig ist die Abgrenzung zu privatwirtschaftlichem Verhalten der Versicherten, da dort der Schutz endet. Die jeweiligen Abgrenzungsfälle sind oft problematisch und haben erhebliche finanzielle Auswirkungen für die Betroffenen. Allerdings ist dies zum Schutz der Versichertengemeinschaft vor einer nicht mehr tragbaren Kostenbelastung notwendig.

Das Urteil zum Fall lesen Sie hier.

Mathias Stier, Syndikusrechtsanwalt, Abteilung Handwerksrecht, Bundesinnung der Hörakustiker KdöR (biha)

„Hörakustik“ – einfach mehr wissen

Impressum | Datenschutz | Kontakt | Abonnieren | Mediadaten

© 2018 hoerakustik.net