Foto: OlenaGo/iStockphoto.com

Bahnbrechendes Urteil zur Gefährlichkeit von Hörgeräten

Hörsysteme sind keine gewöhnlichen Elektrogeräte und können für Menschen gefährlich sein. Dass diese Selbstverständlichkeit anscheinend nicht jedem bewusst ist, zeigen die vielen Angebote von zumeist Elektronikhändlern, welche frei verkäufliche Hörgeräte, ob über das Internet, in Katalogen oder in den Elektrogeschäften selbst, verkaufen, ohne dass eine irgendwie geartete Anpassleistung erfolgt. Schließlich unterfallen Hörgeräte nicht zufällig den Regeln der Medical Devices Regulation (MDR) sowie des Medizinprodukte-Durchführungsgesetzes (MPDG). Hörsysteme sind Medizinprodukte der Klasse IIa nach der MDR. Wie beschwerlich jedoch der Weg zu einer Feststellung der Gefährlichkeit des Hörgeräts sein kann, zeigt die hier besprochene Entscheidung des Oberlandesgerichts Freiburg (OLG Karlsruhe, Zivilsenat in Freiburg, Urteil vom 24. Juni 2022, Aktenzeichen: 4 U 8 3/1 9).

Immer wieder tauchen im Internet, im Kataloghandel oder auch in Elek­trofachgeschäften Angebote für Hörgeräte auf. Sie werden häufig auch Hörverstärker genannt. Allerdings ist weder das Wort Hörgerät noch der Begriff Hörverstärker rechtlich geschützt. Die Verwendung des Begriffs Hörgerät weist auch nicht auf eine bestimmte Verstärkungsleistung des Geräts hin. Während einige dieser Geräte, die sich Hörverstärker nennen, eine maximale Verstärkung von bis zu 40 dB aufweisen – was als ungefährlich angesehen wird –, gehen manche Geräte erheblich über diesen Wert hinaus. So auch im vorliegenden Fall: Ein Internet- und Kataloganbieter verkaufte ein Hörgerät mit einem maximalen Ausgangsschalldruckpegel von 121,2 dB. Das streitgegenständliche Hörgerät verfügt darüber hinaus über keine individuell einstellbare Möglichkeit einer Ausgangsschalldruckbegrenzung.

 

Sachverhalt

Der beklagte Händler vertrieb ein Hörgerät für 49,00 Euro. Dieses Hörgerät verfügte über einen maximalen Ausgangsschalldruckpegel von 121,2 dB und hatte keine Möglichkeit der individuellen Ausgangsschallbegrenzung. Diese Umstände hat ein Privatgutachten, welches die klagende Wettbewerbszentrale in das Gerichtsverfahren eingebracht hatte, ergeben. Das Privatgutachten kam deshalb zu dem Ergebnis, dass das Hörgerät schon nach kurzer Tragedauer eine Schädigung des Restgehörs wahrscheinlich mache. Aufgrund dieser Tatsachenlage stellte das Gutachten eine Gesundheitsgefährdung des Gehörs fest.

Das Landgericht Freiburg wies die Klage jedoch gleichwohl ab, ohne Beweis durch einen unabhängigen Gutachter erheben zu lassen (LG Freiburg, Urteil vom 30.04.2019, Aktenzeichen: 120 O 36/17 KfH).

Das LG Freiburg meinte, es sei nicht bewiesen, dass von dem Hörgerät bei sachgemäßer Anwendung eine Gesundheitsgefahr ausgehe, selbst wenn man den Wahrscheinlichkeitsmaßstab für den Eintritt einer Schädigung als niedrig ansehen würde. Insoweit stellte das Gericht auf die DIN-Normen ab. In der DIN EN 60601-2-66 sei ausgewiesen, dass Hörgeräte mit einem möglichen maximalen Ausgangsschalldruckpegel von über 132 dB einen besonderen Warnhinweis benötigten. Darüber hinaus besage die DIN, dass Hörgeräte so konstruiert sein müssten, dass deren Träger weder im Normalzustand noch beim ersten Fehler unbeabsichtigt einem Schalldruckpegel über 132 dB ausgesetzt würden. Das Landgericht hat einen fast beliebigen dB-Wert aus der DIN-Norm he­rausgesucht; dieser Wert wurde von dem streitigen Hörgerät (121,2 dB) nicht überschritten und deshalb wurde die Klage abgewiesen. Normalerweise stellt ein Privatgutachten einen qualifizierten Parteivortrag dar. Das Gericht hätte sich darüber nicht hinwegsetzen dürfen und hätte Beweis durch einen unabhängigen Sachverständigen erheben lassen müssen. Dies hat das Landgericht nicht getan und die Klage mit einer nichtssagenden Begründung abgewiesen.

Das OLG verurteilte den Händler antragsgemäß,sodass ihm der weitere Verkauf des Hörgeräts untersagt ist.

Das OLG Freiburg hat durch zwei Beschlüsse Beweis erheben lassen: durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen für das Hörakustikhandwerk und durch die Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens des Direktors einer Universitätsklinik. Darüber hinaus ist in der mündlichen Verhandlung die Universitätsprofessorin mündlich angehört und befragt worden. Die Beweisaufnahme ergab, dass von den streitigen Hörgeräten eine Gefahr für das menschliche Gehör ausgehen kann.

 

Rechtliche Würdigung

Das OLG Freiburg spricht zunächst der klagenden Wettbewerbszentrale einen Unterlassungsanspruch aus den §§ 3, 3a, 8 Abs. 1 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) i. V. m. § 4 Abs. 1, Nr. 1 Medizinproduktegesetz (MPG) zu. Zwar gilt das MPG seit 26.05.2021 nicht mehr und ist durch das Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetz (MPDG) abgelöst worden, allerdings gilt das MPG bis zum 26.05.2025 für Medizinprodukte und deren Zubehör weiter, wenn dieses Medizinprodukt oder das Zubehör vor dem 26.05.2021, also vor Inkrafttreten des MPDG, in den Verkehr gebracht wurde. So war dies auch im vorliegenden Fall. Das OLG Freiburg statuiert aber, dass auch bei Anwendung des MPDG, dort § 12, Ziffer 1 MPDG, die gleichen Maßstäbe und die gleichen Verbote gelten wie nach dem alten MPG.

Sodann macht das OLG Freiburg Ausführungen dazu, wann nach § 4 MPG der begründete Verdacht besteht, dass das Medizinprodukt die Sicherheit und die Gesundheit der Patienten, der Anwender oder Dritter bei sachgemäßer Anwendung, Instandhaltung und ihrer Zweckbestimmung entsprechender Verwendung unmittelbar oder mittelbar gefährden. Ein solcher begründeter Verdacht im Sinne dieses Gesetzes besteht nach Auffassung des OLGs Freiburg dann, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass von einem Medizinprodukt eine Gefahr für Patienten ausgeht. Hierfür bedarf es tatsächlicher Anhaltspunkte, die rational nachvollziehbar und wissenschaftlich substantiiert sein müssen.

Das OLG Freiburg kam zu dem Schluss, dass nach diesen Maßstäben der begründete Verdacht einer Gefährdung des Trägers der streitgegenständlichen Hörgeräte vorliege.

Das OLG stellte zunächst fest, dass es sich bei dem streitigen Hörgerät um ein Medizinprodukt im Sinne von § 3 MPG (Klasse IIa gem. § 13 MPG i. V. m. Anhang 9 der Richtlinie 9342 EWG) handele. Gleichzeitig handele es sich um ein Hörgerät der Klasse IIa nach den §§ 2, 3 Ziff. 1 MPDG i. V. m. der MDR.

Dann stellte das OLG Freiburg fest, dass die in dem Verfahren vor dem LG streitigen DIN-Normen nicht abschließend sind. Auch die Ausgangsschalldruckpegelgrenze von 132 dB, auf welche das Landgericht abgestellt hatte, bei deren Überschreiten das Hörgerät einen besonderen Warnhinweis benötige, sage nichts über die Möglichkeit von Gesundheitsgefährdungen bei Ausgangsschalldruckpegeln unterhalb dieser Grenze aus. Vielmehr sei auf die Sachverständigengutachten abzustellen. Der beauftragte Sachverständige, ein Hörakustikermeister, an dessen Fachkunde und dessen Unvoreingenommenheit das OLG Freiburg keine Zweifel hat, kam nach der Untersuchung des streitgegenständlichen Geräts zu dem klaren Ergebnis, dass aufgrund des gemessenen Ausgangsschalldruckpegels von 121,2 dB von dem streitgegenständlichen Hörgerät eine signifikante Gesundheitsgefährdung ausgeht. Außerdem werde durch die fehlende Ausgangsschalldruckbegrenzung das Gehör des Anwenders nicht adäquat vor lauten Schallpegeln geschützt.

Der Sachverständige hatte ausgeführt, dass ein Schalldruckpegel von 120 dB vergleichbar mit dem Probelauf von Düsenflugzeugen in 15 Metern Entfernung sei. Bei einem Schalldruckpegel von über 120 dB könne selbst nach einer Kurzzeiteinwirkung ein sofortiger Gehörschaden entstehen.

Der Sachverständige hatte dem Oberlandesgericht auch einleuchtend die Funktion der individuell veränderbaren Ausgangsschalldruckbegrenzung erläutert. Nach dem Sachverständigengutachten habe die Ausgangsschalldruckbegrenzung die Funktion, die subjektive Unbehaglichkeit durch zu hohen Schalldruck zu begrenzen und zudem die andere Funktion, objektive Gesundheitsgefahren durch zu laute Geräusche auszuschließen.

Auch das Sachverständigengutachten des Direktors der Universitätsklinik Freiburg für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde und die mündliche Erläuterung dieses Gutachtens in der Verhandlung des OLGs habe die Auffassung des sachverständigen Hörakustikermeisters bestätigt und vertieft, sodass von einer möglichen Gefährdung durch das Hörgerät auszugehen sei. Hierzu führt das OLG Freiburg aus: „Im schriftlichen Gutachten wird unter Auswertung wissenschaftlich belastbarer Quellen beschrieben, dass nichtberufliche Expositionen in ähnlichem Umfang zu Lärmschwierigkeit führen wie berufliche Expositionen von ähnlicher Dauer und Höhe, dass bereits bei Werten von über 110 dB akute Hörstörungen auftreten können, dass ein Schallpegel von mehr als 89 dB für mehr als fünf Stunden pro Woche zu dauerhaften Hörschäden führen kann und dass Personen mit Schwerhörigkeit empfindlicher für die Entwicklung von Lärmschwerhörigkeit sind als Normalhörende.“

Die Universitätsklinik hat des Weiteren ausgeführt, dass auch einzelne Schallspitzen zu einer Gesundheitsgefährdung führen können. Dies sei z. B. bei einer einzelnen Lärmspitze von 120 dB möglich. Stelle ein Patient in der Regel in einer leisen Umgebung das Hörgerät laut ein, so könne ein plötzliches lautes Geräusch so stark verstärkt werden, dass es zu einer Gesundheitsgefährdung führe. Generell werde davon ausgegangen, dass ein Level von 110 oder 115 dB nicht überschritten werden sollte. Das streitgegenständliche Gerät liege mit einem maximalen Ausgangsschalldruckpegel von 121,2 dB deutlich über diesem Wert.

Hingegen führt die Auffassung des Landgerichts zu dem Umstand, dass das Hörgerät über eine manuelle Lautstärkenregelung verfügt, zu keiner anderen Bewertung der Gefährlichkeit, denn es sei keineswegs gesichert, dass der – meist betagte – Hörgeräteträger auf plötzlich auftretende laute Geräusche immer hinreichend schnell reagieren kann.

Bei der Frage einer möglichen Gesundheitsgefährdung ist nach Auffassung des OLGs Freiburg zudem entgegen der Auffassung der Beklagten nicht auf den durchschnittlichen Träger des Hörgeräts und einer durchschnittlichen Tragweise des Hörgeräts abzustellen. Vielmehr sind auch Hörgeräteträger mit einzubeziehen, die aus den unterschiedlichsten Gründen, etwa gesundheitlichen und insbesondere kognitiven Einschränkungen, das Hörgerät in einer eher unüblichen, aber angesichts der konkreten technischen Einstellmöglichkeiten noch als sachgemäß zu qualifizierenden Art und Weise benutzen. Dabei stellt das OLG Freiburg auf § 4, Absatz 1, Nummer 1, MPG bzw. § 12, Ziffer 1, MPDG ab. Dort ist von einer „sachgemäßen Anwendung“ die Rede. Eine sachgemäße Anwendung ist danach in jeder Anwendung im Rahmen der vom Gerät vorgesehenen Anwendungsmöglichkeiten zu erkennen. Damit gehört es auch zur sachgemäßen Anwendung, das Gerät dauerhaft mit der vom Gerät vorgesehenen maximalen Verstärkungsleistung, Stufe 4, zu tragen. Dass der Hörgeräteträger die maximale Verstärkungsleistung über die gesamte tägliche Tragedauer (das medizinische Gutachten der Universitätsklinik Freiburg sprach von einer durchschnittlichen Tragedauer von sechs bis sieben Stunden pro Tag) oder jedenfalls über einen längeren Zeitraum hinweg wählen wird, ist nicht derart unwahrscheinlich, dass es bei der Bewertung außer Betracht zu bleiben wäre. Nach Darstellung der Sachverständigen werde es Patienten geben, die das Hörgerät nicht aus dem Ohr nehmen, wenn es zu einem Schalldruckpegel von 120 dB komme. Manche Patienten würden einfach zu laut hören, manche Patienten seien kognitiv eingeschränkt und würden deshalb den Lautstärkeregler nicht bedienen. Manche Patienten würden sich die Hörgeräte von Verwandten oder Pflegepersonal einstellen lassen und seien selbst gar nicht in der Lage, das Hörgerät zu bedienen oder herauszunehmen.

Nach allem geht von dem streitigen Hörgerät eine Gefährdung des menschlichen Gehörs aus. Die Klage war damit begründet.

 

Für die Praxis

Obwohl Hörgeräte mit einem möglichen maximalen Ausgangsschalldruckpegel von über 132 dB einen besonderen Warnhinweis benötigen, können auch einzelne Schallspitzen von bis zu 120 dB zu einer Gesundheitsgefährdung führen.

Das Urteil ist von erheblicher praktischer Relevanz. Es ist das erste Urteil eines deutschen Obergerichts in Zivilsachen, was sich explizit mit der potenziellen Gefährlichkeit von Hörsystemen auseinandersetzt. Es kommt zu dem Schluss, dass Hörsysteme für das menschliche Gehör bei unsachgemäßer Konstruktion und unsachgemäßer Anwendung gefährlich sein können. Die hierzu getroffenen Feststellungen des Gerichts rechtfertigen den gesamten Berufsstand. Dies gilt insbesondere für das umfangreiche Prüfungswesen und vor allem für die Meisterpräsenz. Denn insbesondere die für das Gesundheitshandwerk geltende strenge Meisterpräsenz ist nur gerechtfertigt, wenn bei unsachgemäßer Anwendung von Hörsystemen eine Gefahr für den menschlichen Körper und die körperliche Integrität gegeben ist. Das Gericht bezieht sich dabei auf die beiden Gutachten des sachverständigen Meisters der Hörakustik und der Ausführungen der Professorin der Universitätsklinik Freiburg. Immer wieder verweist das Gericht auf die gutachterlichen Stellungnahmen und macht sich diese „überzeugenden Feststellungen“ zu eigen. Besonders hervorzuheben ist, dass das Urteil auch zu der Lärm- und Vibrationsschutzverordnung Stellung nimmt. Dort sind für den Arbeitsschutz in § 6 sogenannte Auslösewerte bei Lärm genannt. Bei Anwendung der Auslösewerte wird im Arbeitsschutz eine für den Beschäftigten geeignete persönliche Schutzausrüstung gefordert, sind Lärmbereiche zu kennzeichnen und, falls technisch möglich, abzugrenzen. Die Auslösewerte betragen als oberen Auslösewert 85 dB. Das universitäre Gutachten, welches sich das Gericht zu eigen gemacht hat, stellt dabei fest, dass wissenschaftlich belastbare Quellen beschreiben, dass nichtberufliche Expositionen in ähnlichem Umfang zu Lärmschwerhörigkeit führen können wie berufliche Expositionen bei ähnlicher Dauer und Höhe. Damit steht nach den Ausführungen des Gerichts fest, dass bei Auslösewerten zwischen 80 dB und 85 dB der für den Menschen gefährliche Bereich beginnt und je nach Tragedauer zu einer Hörminderung führen kann.

Aber auch bei der Konstruktion muss ein Hörsystem, welches einen entsprechend hohen maximalen Ausgangsschalldruckpegel erzeugt, eine technische Ausgangsschalldruckbegrenzung vorhalten. Diese ist vom Hörakustiker individuell einzustellen.

Das Urteil zeigt allerdings auch, wie schwierig es ist, Anbieter von wesentlich zu lauten Hörgeräten und Falschkonstruktionen dazu zu bringen, ihr Produkt vom Markt zu nehmen. Hier wird der Hinweis auf das Urteil des OLGs Freiburg sehr hilfreich sein.

Nach allem sind Kunden gut beraten, nicht irgendwelche Hörgeräte im Katalog zu bestellen. Diese können gesundheitsgefährdend sein.

Das Urteil zum Fall lesen Sie hier.

Peter Radmacher, Leiter Abteilung Recht, Bundesinnung der Hörakustiker (biha) KdöR

„Hörakustik“ – einfach mehr wissen

Impressum | Datenschutz | Kontakt | Abonnieren | Mediadaten

© 2018 hoerakustik.net