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Das Hörsystem ist beantragt, aber die Krankenkasse reagiert einfach nicht? Hier stellt sich immer wieder die Frage nach der Genehmigungsfiktion des Paragrafen 13 Abs. 3a Sozialgesetzbuch (SGB) V. Tritt diese ein, darf der Versicherte sich die Leistung selbst beschaffen und der Kasse in Rechnung stellen. Doch gilt Paragraf 13 Abs. 3a SGB V überhaupt für die Hörsystemversorgung? Das Hörsystem ist beantragt, aber die Krankenkasse lehnt die Übernahme von Mehrkosten ab? Hier stellt sich die Frage, wer für die Mehrkosten aufzukommen hat. Das können neben der Krankenkasse auch der Versicherte selbst oder aber der Rentenversicherungsträger sein. Doch wann genau haben Versicherte einen Anspruch auf Übernahme der Mehrkosten?

 

Sachverhalt

Beide Fragen waren Gegenstand einer Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22.01.2020 (L 5 KR 241/18). Die klagende Lehrerin einer Förderschule beantragte ein hochwertiges Hörsystem, obwohl das Sprachverstehen mit dem eigenanteilsfreien Hörsystem lediglich fünf Prozentpunkte hinter dem Sprachverstehen mit dem gewünschten Hörsystem zurückblieb. Sie argumentierte mit ihrer anspruchsvollen Tätigkeit in starkem Umgebungslärm, dem Musikunterricht, Elterntelefonaten und Lehrerkonferenzen, wofür sie die Bluetooth-Funktion des höherpreisigen Hörsystems benötige. Zudem hatte die Krankenkasse den Antrag der Klägerin mehr als drei Wochen nicht beantwortet, sodass die Klägerin auch auf die Genehmigungsfiktion des Paragrafen 13 Abs. 3a SGB V hinwies.

 

Entscheidungsgründe

Das angerufene Landessozialgericht Baden-Württemberg wies die Klage zurück. Weder greife die Genehmigungsfiktion des Paragrafen 13 Abs. 3a SGB V, noch bestehe ein Anspruch auf das begehrte höherwertige Hörsystem. Auch die Rentenversicherung komme nicht als Leistungsträger in Betracht. Die Genehmigungsfiktion des Paragrafen 13 Abs. 3a SGB V greife nicht, da es sich bei einer Hörsystemversorgung nicht um eine Krankenbehandlung, sondern um eine Rehabilitationsleistung im Sinne des Behinderungsausgleichs handele. Die Grunderkrankung der Schwerhörigkeit bleibe bestehen und werde damit nicht behandelt, sondern lediglich ausgeglichen. Damit gelte aber das Rehabilitationsrecht des SGB IX, dessen strengere Voraussetzungen an die Genehmigungsfiktion des Paragrafen 14 SGB X die Klägerin nicht eingehalten habe.

Ein Anspruch auf die gewünschte höherwertige Versorgung bestehe auch im Übrigen nicht. Zwar erreiche die Klägerin nach dem Freiburger Sprachtest ein um fünf Prozentpunkte besseres Sprachverstehen mit dem gewünschten Hörsystem. Allerdings bewege sich dieser Unterschied im Bereich der Messtoleranz und sei nicht signifikant, sodass mit beiden Hörsystemen ein nahezu identischer Hörgewinn erreicht werde. Den Wunsch der Klägerin nach einer weiteren Begutachtung wies das Gericht zurück  der Freiburger Sprachtest sei ein in der Hilfsmittel-Richtlinie normiertes Verfahren und ermögliche einen objektiven Vergleich zwischen den getesteten Hörgeräten. Weitere Ermittlungen zum Hörgewinn seien daher nicht notwendig.

Die weiteren von der Klägerin angeführten Eigenschaften des begehrten Hörsystems – wie zum Beispiel Bluetooth – führten ebenfalls nicht zum Erfolg der Klage, da diese nur der komfortableren Gestaltung im Alltag dienten. Für derartige Komforteigenschaften sei die Krankenkasse nicht leistungspflichtig. Die den Vertragspreis übersteigenden Mehrkosten seien auch nicht vom Rentenversicherungsträger zu übernehmen. Dieser sei nur leistungspflichtig für höherwertige Ausstattungen aus rein beruflichen Gründen, nicht aber für solche, die gleichzeitig auch dem Alltagsgebrauch dienen.

Nach Ansicht des Gerichts gehören die von der Klägerin als „berufliche Kommunikation“ aufgeführten Telefonate, Mehrpersonengespräche und Verständigungen unter Störgeräuschen jedoch nahezu zu jedem privaten und beruflichen Alltag. So trete Störschall auch im Straßenverkehr, in öffentlichen Verkehrsmitteln sowie in Einkaufs- und kulturellen Einrichtungen auf. Damit war für das Gericht nicht ersichtlich, dass die Klägerin ausschließlich in ihrer konkreten beruflichen Tätigkeit als Lehrerin auf eine besondere Hörfähigkeit – wie etwa bei akustischen Kontrollarbeiten oder beim feinsinnigen Unterscheiden zwischen bestimmten Tönen und Klängen wie beispielsweise bei der Tätigkeit eines Klavierstimmers – angewiesen wäre. Zudem könne auch beim eigenanteilsfreien Hörsystem die Lautstärkeeinstellung des Hörsystems vorab den Anforderungen beim Telefonieren angepasst, das Hörprogramm ausgewählt und das integrierte Richtmikrofon entsprechend ausgerichtet werden. Die Klägerin hatte die Mehrkosten damit selbst zu tragen.

 

Für die Praxis

Das vorliegende Urteil ist aus mehreren Gesichtspunkten interessant. Zum einen ordnet es den Behinderungsausgleich dem Bereich der Rehabilitation und nicht der Krankenbehandlung zu. Diese Zuordnung hat Folgen etwa im Bereich der Genehmigungsfiktion. So gilt die bekannte Genehmigungsfiktion des Paragrafen 13 Abs. 3a SGB V lediglich im Bereich der Krankenbehandlung, wogegen im Bereich der Rehabilitation Paragraf 18 SGB IX mit den dortigen Voraussetzungen gilt. Daneben betont das Urteil einmal mehr die hohe Qualität und Aussagekraft des Freiburger Sprachtests. Als in der Hilfsmittel-Richtlinie normiertes Verfahren ermöglicht der Freiburger Sprachtest einen objektiven Vergleich zwischen den getesteten Hörsystemen, sodass weitere Begutachtungen in der Regel nicht erforderlich sind. Eine Abweichung von fünf Prozentpunkten in der vergleichenden Anpassung wird dabei als nicht relevant angesehen. Schließlich wurde die Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers für höherwertige Hörsysteme einmal mehr auf spezielle Höranforderungen wie die des Klavierstimmers eingegrenzt. Telefonate, Mehrpersonengespräche und Verständigungen im Störgeräusch mögen zwar in vielen beruflichen Situationen notwendig sein – treten aber auch im normalen Alltag auf. Damit entfällt jedoch die Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers, der nur für spezielle berufliche Situationen leistungspflichtig ist.

Für die Versorgung bedeutet dies, die Wünsche des Kunden richtig einzuschätzen und nicht vorschnell eine Übernahme der Mehrkosten in Aussicht zu stellen. Das Gesetz sieht in Paragraf 33 Abs. 1 Satz 9 SGB V ausdrücklich die Möglichkeit einer privaten Zuzahlung vor. Der Versicherte hat gegenüber seiner Krankenkasse einen Anspruch auf den bestmöglichen Hörgewinn, welcher durch den Freiburger Sprachtest nachgewiesen wird. Abweichungen von fünf Prozentpunkten sind dabei nicht relevant. Sonstige Features, die nicht nur im Beruf, sondern auch im Alltag Vorteile bringen, sind als alltäglicher Komfort anzusehen und vom Versicherten grundsätzlich selbst zu bezahlen. Die Rentenversicherung kommt nur für ausschließlich berufsbedingten Sonderbedarf auf. Will der Kunde die Mehrkosten dennoch gerichtlich einklagen, sollte das Hörsystem zunächst vom Kunden gekauft und auch bezahlt werden. Anderenfalls wartet der Hörakustiker oft Jahre, bis ein entsprechendes Gerichtsverfahren – meist ohne die vom Kunden gewünschte Kostenübernahme – beendet ist und muss dann die Bezahlung oder die Rückgabe des Hörsystems im Nachhinein mit dem Kunden klären.

Das Urteil zum Fall lesen Sie hier.

Alexandra Gödecke • biha

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