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Die Versorgung normaler Höransprüche von Versicherten einer gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist regelmäßig auf den Vertragspreis bzw. den Festbetrag für Hörsysteme begrenzt. Wünsche jenseits des Hörens betreffen dagegen Komfort oder Ästhetik und sind daher Privatsache des Schwerhörigen. Ausnahmen gelten in engem Rahmen lediglich für besondere berufliche Anforderungen. Werden bestimmte Features aufgrund besonderer beruflicher Anforderungen notwendig, so kann die Kostenpflicht bezüglich dieser Extras ausnahmsweise den Rentenversicherungsträger treffen. Es handelt sich dann um Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, welche von der Rentenversicherung zu erbringen sind. Wo hier die Grenze zu ziehen ist, bleibt jedoch regelmäßig den Gerichten überlassen. Kein Wunder, dass daher sich die Klagen in diesem Bereich häufen.

 

Sachverhalt

Mit einer solchen Klage musste sich auch das Sozialgericht Leipzig (S 8 K 268/18) im Falle einer schwerhörigen Ausbilderin auseinandersetzen. Diese beantragte die Übernahme der Mehrkosten für ein mehrkostenpflichtiges Hörsystem mit automatischer Programmwahl. Sie sei im Klassenraum regelmäßig hohen akustischen Anforderungen ausgesetzt. Mit dem eigenanteilsfreien Hörsystem müsse sie bis zu 40 manuelle Schaltvorgänge am Tag vornehmen. Dies sei unzumutbar und halte sie von ihrer eigentlichen Arbeit ab. Die Krankenversicherung bewilligte der schwerhörigen Ausbilderin jedoch lediglich den Vertragspreis für ein mehrkostenfreies Hörsystem. Weitere Kosten könnten weder von der Krankenversicherung noch von der Rentenversicherung übernommen werden, da es sich nicht um einen berufsbedingten Mehrbedarf handele, denn Kommunikation in Betriebsräumen sei in fast allen Berufsgruppen notwendiger Bestandteil der Berufsausübung, sodass kein spezifischer Mehrbedarf bestehe. Die daraufhin eingereichte Klage vor dem Sozialgericht Leipzig hatte jedoch schließlich Erfolg.

 

Entscheidungsgründe

Das Sozialgericht Leipzig gab der Klägerin recht und bejahte den beruflichen Mehrbedarf. An die Klägerin würden sehr wohl besondere berufliche Höranforderungen gestellt. So müsse diese zeitgleich 22 Schüler unterrichten, darunter auch Schüler mit Migrationshintergrund und/oder Behinderung. Erschwerend käme hinzu, dass der Unterricht in einem „PC-Kabinett“ stattfinde, in welchem der größere Abstand zwischen den Arbeitsplätzen der Schüler die Verständlichkeit ebenfalls erschwere. Zudem läge der Unterrichtsraum in einer Flugschneise sowie an einer Straßenbahnlinie und sei auch daher erhöhtem Lärm von außen – insbesondere beim Lüften – ausgesetzt.

Insgesamt seien die Hörsituationen im Unterricht zu verschieden, um diesen mit einer einzigen Hörsystemeinstellung gerecht zu werden, sodass ein Umschalten des Hörsystems je nach Hörsituation unumgänglich sei. Dabei könne die Klägerin jedoch nicht auf ein manuelles Umschalten verwiesen werden. In ihrem speziellen Fall handele es sich bei der begehrten Anpassautomatik nicht um ein Komfortelement, sondern um ein elementares Feature zur akustischen Bewältigung ihres beruflichen Alltags. Gerade bei behinderten oder fremdsprachigen Schülern müsse sich die Klägerin erst „einhören“, um sich mit diesen verständigen zu können. Dies sei aber mit den aufzahlungsfreien Hörsystemen mangels Anpassautomatik nicht möglich. Ein ständiges manuelles Umschalten – nachweislich bis zu 40-mal am Tag – sei der Klägerin in ihrem Berufsalltag nicht zuzumuten. Die Versorgung mit aufzahlungsfreien Hörsystemen war daher nach Ansicht des Sozialgerichts nicht ausreichend, auch wenn diese im Freiburger Sprachtest gleiche Messergebnisse wie das aufzahlungspflichtige Hörsystem aufwiesen. Ihnen fehlte es jedoch an der erforderlichen Anpassautomatik. Das Sozialgericht Leipzig verurteilte daher den Leistungsträger, die Klägerin aus beruflichen Gründen mit dem höherwertigen Hörsystem zu versorgen.

 

Für die Praxis

Waren die Grenzen für einen berufsbedingten Mehrbedarf bei Schwerhörigen früher sehr hoch angesetzt, häufen sich in letzter Zeit Urteile mit deutlich geringeren Anforderungen. So wurden Lehrkräfte bislang regelmäßig auf aufzahlungsfreie Hörsysteme verwiesen, da die Kommunikation unter Störgeräuschen auch jenseits des Berufslebens zum Alltag gehört. Straßenlärm oder Stimmengewirr, wie etwa im Restaurant, sind alltägliche akustische Herausforderungen, sodass es sich bei diesen Geräuschkulissen gerade nicht um „spezifischen“ Lärm handeln dürfte. Das Sozialgericht Leipzig sah dies jedoch anders und hat die Schwelle zur „berufsspezifischen“ Höranforderung nun einmal mehr abgesenkt. Schlüssig ist dies aber nicht. So bejaht das Sozialgericht im Falle der Ausbilderin eine besondere Höranforderung im Beruf, verneint dies aber ausdrücklich für Sachbearbeitertätigkeiten wie etwa im Finanzamt, denn dort sei nur die normale Kommunikation mit Kunden zu bewältigen, für welche aber keine automatische Programmwahl erforderlich sei. Diese Argumentation überzeugt nicht wirklich. Denn auch der Sachbearbeiter muss sich gegebenenfalls zeitgleich mit mehreren fremdsprachigen Kunden verständigen. Auch hier sind Umgebungsgeräusche, Straßen- oder Fluglärm denkbar. Je weiter die Sozialgerichte die Grenzen des berufsbedingten Mehrbedarfs ausdehnen, desto willkürlicher scheint die Abgrenzung. Eine Urteilsprognose in Gerichtsprozessen ist damit inzwischen nahezu unmöglich. Haben Kunden besondere akustische Herausforderungen am Arbeitsplatz zu bewältigen, ist daher die Zuständigkeit der Rentenversicherung für etwaige Mehrkosten durchaus denkbar. Allerdings muss dem Kunden das Risiko der Antragsablehnung und gegebenenfalls auch einer gerichtlichen Klageabweisung ausreichend kommuniziert werden, denn laut den „Empfehlungen des Deutschen Rentenversicherung Bunds und des GKV-Spitzenverbands zum Verfahren bei Beteiligung verschiedener Leistungsträger im Rahmen der Hörhilfenversorgung“ vom 23.05.2014 liegt berufsbedingter Mehrbedarf für eine Hörsystemversorgung eigentlich nur im absoluten Ausnahmefall vor. Beispielhaft werden hier Überwachungsarbeiten unter akustischen Signalen (z. B. Intensivkrankenschwester) genannt oder Tätigkeiten im Musikbereich mit besonders hohen Anforderungen an ein detailliertes, geschultes Hörvermögen (z. B. Klavierstimmer).

Nach den neueren Urteilen in Sachen berufsbedingtem Mehrbedarf scheinen die strengen Grundsätze von den Gerichten jedoch nach und nach aufgeweicht zu werden. Sollte sich Ihr Kunde an seine Rentenversicherung wenden wollen, muss jedoch immer auf die Einhaltung des Beschaffungswegs geachtet werden: Erst nach einem abgelehnten Antrag auf Kostenübernahme der berufsbedingten Mehrkosten darf der Kunde das mehrkostenpflichtige Hörsystem auf eigene Rechnung erwerben, anderenfalls ist die Übernahme der Mehrkosten durch die Rentenversicherung regelmäßig ausgeschlossen, da der Leistungsträger den individuellen Bedarf zumindest prüfen können muss.

Das Urteil zum Fall lesen Sie hier.

Alexandra Gödecke, Juristin, Abteilung Soziale Sicherung, Bundesinnung der Hörakustiker KdöR (biha)

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