Der Arbeitgeber ist nur dann zur Vergütung von Überstunden verpflichtet, wenn er die Leistung von Überstunden veranlasst hat. Er muss sich die Leistung und Vergütung von Überstunden nicht aufdrängen lassen. Foto: andyller/AdobeStockphoto.com

Besonders zum Ende des Arbeitsverhältnisses meint mancher Arbeitnehmer, er habe von seinem Arbeitgeber wegen vermeintlicher Überstunden noch Vergütung zu bekommen. Derartige Ansprüche werden häufig am Ende des Arbeitsverhältnisses gestellt. Unter welchen tatsächlichen Voraussetzungen der Arbeitnehmer Überstundenvergütung erhalten kann und ob eine (nicht) vorhandene Zeiterfassung Einfluss auf den Anspruch hat, beleuchtet ein aktuelles Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG), Urteil vom 4. Mai 2022, Aktenzeichen: 5 AZR 359/21.

Im Jahr 2019 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) gefordert, ein System der Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit sei für den Arbeitgeber verpflichtend (EuGH, Urteil vom 14. Mai 2019, Aktenzeichen: C-55/18). Dieses Urteil trat eine Presselawine los, so titelte z. B. „Der Spiegel“ 2019: „Arbeitgeber müssen Arbeitszeiten systematisch erfassen.“ Seither ist weder viel von der Pflicht der Arbeitgeber zu hören, noch dass diese in Europa und in Deutschland zwingend aufgrund der EuGH-Rechtsprechung umgesetzt worden wäre. Dies ist aber auch nicht ungewöhnlich. Nicht Urteile verpflichten den Arbeitgeber und den Arbeitnehmer, sondern Gesetze. Bisher gibt es aber weder auf europäischer Ebene noch in unserer Republik eine entsprechende EU-Verordnung, eine EU-Richtlinie oder ein innerstaatliches Gesetz. Im Koalitionsvertrag steht Folgendes: „Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z. B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.“ Dieser Satz ist interpretations- und auslegungsbedürftig und zielt nicht zwangsläufig auf die Schaffung eines Zeiterfassungssystems. Eine Initiative der Europäischen Kommission für eine entsprechende Verordnung oder Richtlinie ist nicht ersichtlich.

Ganz aktuell hat zur Zeiterfassung das BAG eine Entscheidung darüber getroffen, ob der Betriebsrat die Einführung eines Zeiterfassungssystems verlangen kann. Er hat ein solches Initiativrecht verneint, weil der deutsche Arbeitgeber bereits nach dem Arbeitsschutzgesetz verpflichtet sei, ein System wie Zeiterfassung einzuführen. Die Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor. Im Licht der hier zu besprechenden Entscheidung des BAGs muss jedoch keine neue Bewertung der Zeiterfassung vorgenommen werden. Auch wenn keine Zeiterfassung erfolgt, hat dies keine Auswirkungen auf den Überstundenprozess, welcher für den Arbeitgeber ausgesprochen vorteilhaft ist. Auch ein Bußgeld ist derzeit nicht zu befürchten. Warum das BAG an seinen Grundsätzen zur Beweislast beim Überstundenprozess festhalten wird, zeigt die folgende Entscheidung.

 

Sachverhalt

Das Zeiterfassungssystem sagt nichts darüber aus, ob der Arbeitnehmer die ganze Zeit beschäftigt war.

Der Arbeitnehmer verlangt von dem Arbeitgeber die Bezahlung von Überstunden, die der Arbeitnehmer zwischen dem 4. Januar 2016 und dem 16. Juli 2018 geleistet haben will. Dabei soll es sich um 348 Überstunden handeln. Hierfür verlangt der Arbeitnehmer von dem Arbeitgeber 5.222,67 Euro (15 Euro in der Stunde). Zur Begründung führt der Arbeitnehmer aus, die Zahl der Überstunden ergäbe sich aus dem positiven Saldo der elektronischen Zeiterfassung beim Arbeitgeber. Er habe die gesamte aufgezeichnete Zeit gearbeitet. Darüber hinaus habe er nie Pausen gemacht. Anders sei es auch nicht möglich gewesen, die Auslieferungsaufträge, es handelt sich nämlich um einen Auslieferungsfahrer, abzuarbeiten.

Der Arbeitgeber verteidigt sich damit, dass die Zeiterfassung lediglich eine Kommt-und-geht-Zeit handele. Der Arbeitnehmer sei darüber hinaus angewiesen worden, arbeitstägliche Pausen zu nehmen. Darüber hinaus habe es auch regelmäßige zusätzliche Raucherpausen gegeben.

 

Entscheidungsgründe

Im Ergebnis hat das BAG den Anspruch des Arbeitnehmers auf Zahlung von Überstundenvergütung in Höhe des verlangten Betrags verneint. Die Voraussetzungen für eine derartige Vergütung, welche sich aus § 611a Abs. 2 BGB oder aus § 612 Abs. 1 BGB ergeben könnten, lägen nicht vor.

Legen die Parteien eines Arbeitsvertrags den zeitlichen Umfang der zu erbringenden Arbeitsleistung fest, betrifft die Entgeltzahlungspflicht zunächst nur die Vergütung der vereinbarten normalen Arbeitszeit. Alles bleibt also im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis. Erbringt der Arbeitnehmer Arbeit in einem diese normale Arbeitszeit übersteigenden zeitlichen Umfang, ist der Arbeitgeber zu deren Vergütung nur verpflichtet, wenn er die Leistung von Überstunden veranlasst hat oder ihm zumindest zuzurechnen ist. Schließlich müsse sich der Arbeitgeber Leistung und Vergütung von Überstunden nicht aufdrängen lassen und der Arbeitnehmer kann nicht durch überobligatorische Mehrarbeit seinen Vergütungsanspruch selbst bestimmen. Es sei vielmehr Sache des Arbeitgebers, im Rahmen der vertraglichen Vereinbarungen und seines Direktionsrechts nach § 106 Gewerbeordnung dem Arbeitnehmer in qualitativer und quantitativer Hinsicht die zu erbringende Arbeitsleistung zuzuweisen. Der Arbeitnehmer könne sich nicht über die vertraglichen Vereinbarungen hinaus selbst Arbeit geben und seinen Arbeitsumfang erhöhen. Deshalb müssten die Überstunden von dem Arbeitgeber angeordnet (1), gebilligt (2), geduldet (3) oder jedenfalls die Erledigung der geschuldeten Arbeit notwendig (4) gewesen sein. Für diese Voraussetzungen trage der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast.

Das BAG argumentiert mit § 612 Abs. 1 BGB. Nach dieser Vorschrift gilt eine Vergütung als stillschweigend vereinbart, wenn die Dienstleistung den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist. Der Arbeitnehmer könne jedoch keine Vergütung erwarten, wenn der Arbeitgeber nicht durch Anordnung, Duldung, Billigung oder zugewiesene Arbeitsmenge die Überstunden veranlasst hat. Einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass jede (Mehr-)Leistung zu vergüten ist, gibt es nach Auffassung des BAGs nicht. Entscheidet sich der Arbeitnehmer aus freien Stücken, ohne jede arbeitgeberseitige Veranlassung überobligatorisch Arbeit zu erbringen, entspräche dies nicht dem vertraglich Vereinbarten und es ist keine zusätzliche Vergütung zu erwarten.

Daran ändere auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Pflicht des Arbeitgebers, eine Einrichtung eines Systems der Zeiterfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit einzuführen, nichts. Schließlich habe die Pflicht zur Messung der Arbeitszeit keine Auswirkung auf die Grundsätze der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess, so wie das BAG diese festgestellt hat. In derartigen Fällen sei zwischen arbeitsschutzrechtlicher und vergütungsrechtlicher Einordnung der Arbeitszeit zu unterscheiden. Unionsrechtliche Regelungen aus der Arbeitszeitrichtlinie fänden (da lediglich Arbeitsschutzrecht) grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung von Arbeitnehmern.

Der EuGH berufe sich, so das BAG, auf Art. 31 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta und lege die Arbeitszeitrichtlinie der Europäischen Union (EU) im Licht dieser Charta aus. Die Richtlinie beschränke sich jedoch darauf, bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln, um den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Damit finde die Arbeitszeitrichtlinie grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer. Dies sei auch ständige Rechtsprechung des EuGHs. Zweck der Arbeitszeitrichtlinie sei kein vergütungsrechtlicher; dieser liege viel mehr allein in den Belangen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer. Bereits in Art. 1 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie sei geregelt, dass bei dieser Richtlinie Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeitszeitgestaltung im Vordergrund stünden. Auch der Erwägungsgrund 4 dieser Richtlinie beziehe sich bei der Zielsetzung auf die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer.

Im Zwischenergebnis bleibe es dabei, dass die Rechtsprechung des EuGHs keine Auswirkungen auf die Darlegungs- und Beweislastverteilung in einem Vergütungsrechtsstreit hat. Die Grundsätze des EuGHs gestalten nicht den nationalen Arbeitsgerichtsprozess und dessen Beweislastregeln oder das materielle Recht. Die vergütungsrechtliche Arbeitszeit bestimmt sich unabhängig davon, ob es sich um Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne handelt.

Im vorliegenden Fall verneint das BAG auch, dass der Arbeitgeber die Überstunden veranlasst haben könnte. Es läge weder eine ausdrückliche Anordnung noch eine konkludente Anordnung vor. Allein die Anwesenheit des Arbeitnehmers im Betrieb oder an einem Arbeitsort außerhalb des Betriebs bedeutet keine Vermutung dafür, dass die Überstunden zur Erbringung der geschuldeten Arbeit notwendig gewesen seien.

Nach allem war der Anspruch des Arbeitnehmers nicht gegeben und die Klage bzw. hier die Revision zurückzuweisen.

 

Für die Praxis

Für den Hörakustiker stellt sich die Frage, ob er die Arbeitszeiten seiner Arbeitnehmer erfassen muss. Zu der Erfassung der Arbeitszeit selbst hat der EuGH unter Berufung auf den Generalanwalt (ein vorgeschalteter Gutachter) darauf verwiesen, dass jede Art der Arbeitszeitaufzeichnung mög-lich sei. Diese könne elektronisch sein, aber auch durch handschriftliche Aufzeichnungen gewährleistet werden. Eine derartige Arbeitszeiterfassung ist aber augenblicklich noch nicht erforderlich. Zwar sieht das BAG aufgrund des Arbeitssicherheitsgesetzes eine Verpflichtung zur Aufzeichnung der Arbeitszeit. Fehlt diese, führt dies jedoch nicht zwangsläufig zu Nachteilen für den Arbeitgeber. Vielmehr bleibt es dabei, dass er im Überstundenvergütungsprozess die Beweisantritte seines (ehemaligen) Arbeitnehmers abwarten kann. Dieser muss ja nach den oben genannten Grundsätzen beweisen, dass der Arbeitgeber ausdrücklich oder konkludent die Überstunden angewiesen hat, diese zumindest gebilligt hat oder die Überstunden notwendig waren. In vielen Fällen kann der Arbeitnehmer dies nicht beweisen. Da nützt dem Arbeitnehmer auch ein elektronisches Zeiterfassungssystem nichts, denn dieses System sagt nichts darüber aus, ob der Arbeitnehmer die ganze Zeit beschäftigt war. Es entfaltet auch keine Vermutungswirkung nach dem Motto, wer länger bleibt, erhält mehr Geld. Auch wenn der Arbeitnehmer die ganze Zeit beschäftigt war, stellt sich wiederum die Frage nach der arbeitgeberseitigen Anordnung oder Notwendigkeit der Überstunden. Ob die kaufmännische Vorsicht eine Zeiterfassung erforderlich macht, muss jeder Hörakustiker für sich selbst entscheiden. Da jedoch kein Bußgeld droht, kann darauf auch verzichtet werden. Dass Arbeitnehmer wegen Überarbeitung oder zu langen Schichten Fehler machen oder Betriebsunfälle verursachen, ist in der Hörakustikerbranche nahezu ausgeschlossen.

Einen interessanten Aspekt hat das BAG zusätzlich beobachtet, denn das BAG sieht die Ursache des nicht seltenen Unterliegens der Arbeitnehmer im Überstundenvergütungsprozess darin, dass diese bis zur gerichtlichen Geltendmachung von Überstunden über einen längeren Zeitraum abwarten und keine aussagekräftigen Unterlagen (mehr) zur Begründung ihres Anspruchs in den Händen haben. Stellt ein Arbeitnehmer aber fest, dass er unbezahlte Überstunden leisten muss, gebietet es schon die Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten, sich Aufzeichnungen über die geleisteten Arbeitszeiten zu machen. Auch besteht rechtzeitig die Möglichkeit, die Art und Weise der vom Arbeitgeber veranlassten Überstunden durch eigene Wahrnehmung und die Wahrnehmung Dritter als Beweis zu sichern, denn bei den Überstunden gilt der Grundsatz für den Arbeitnehmer: „Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen“ (Goethe, Faust I).

Das BAG deutet damit an, dass diese Überstundenvergütungsprozesse zumeist am Ende des Arbeitsverhältnisses, insbesondere nach einer Kündigung, stattfinden. Eine frühzeitige Geltendmachung der Überstunden ist aber doch eigentlich aus finanziellen Gründen dringend angezeigt. Hier heißt es wohl dann, dass am Schluss abgerechnet wird.

Das Urteil zum Fall lesen Sie hier.

Peter Radmacher, Leiter Abteilung Recht, Bundesinnung der Hörakustiker KdöR (biha)

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