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Moderne Hörsysteme können eine ganze Menge mehr als nur das Hören verbessern: Sie können etwa das freihändige Telefonieren ermöglichen, Impulsschall automatisch unterdrücken oder Windgeräusche filtern. Hat ein Kunde sich erst von der großen Bandbreite an möglichen Features inspirieren lassen, wird er die Zusatzausstattung mit dem einen oder anderen Extra bei seiner Hörsystemauswahl in Betracht ziehen. Diese Zusatzausstattung müssen Versicherte einer gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf eigene Kosten erwerben, es sei denn, es besteht eine außergewöhnliche berufliche Situation, in welcher bestimmte Features unabdingbar sind. In diesen Fällen könnte eine berufsbedingte Zusatzausstattung von der Rentenversicherung übernommen werden. Von derartigen außergewöhnlichen Situationen gehen jedoch viele Versicherten zu Unrecht aus.

 

Sachverhalt

Diese Erfahrung musste auch eine gesetzlich Krankenversicherte machen, die unter einer mittelgradigen Innenohrschwerhörigkeit litt. Aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit in der Erwachsenenbildung begehrte sie die Ausstattung mit einer frequenzmodulierten Funksignalanlage (FM-Anlage) und acht Handmikrofonen. Da ihr bisheriges Hörsystem mit der gewünschten FM-Anlage nicht kompatibel war, entschied sie sich zudem für ein neues Hörsystem, welches die folgenden Zusatzfeatures umfasste: automatisches Richtmikrofonprogramm, freihändiges Telefonieren, Zusatzprogramm „Verstehen im lauten Störgeräusch“, 360-Grad-Verstehen und automatische Impulsschallunterdrückung. Die Ausstattung mit der FM-Anlage und dem begehrten Hörsystem beantragte die GKV-Versicherte zunächst bei ihrer Rentenversicherung. Diese reichte den Antrag an die gesetzliche Krankenversicherung weiter, welche sich zur Übernahme der vertraglich vereinbarten Vergütung für das Hörsystem bereit erklärte. Weitere Kosten für Zusatzausstattung und FM-Anlage übernahm die Krankenkasse nicht. Auch die Rentenversicherung erklärte sich zur Übernahme weiterer Kosten nicht bereit. Die daraufhin eingereichte Klage hatte vor dem Landessozialgericht Baden-Württemberg (Az. L 11 R 3540/20) keinen Erfolg.

 

Entscheidungsgründe

Das Landessozialgericht stellte gleich zu Beginn fest, dass die begehrte Zusatzausstattung für den Behinderungsausgleich der Klägerin nicht notwendig und eine diesbezügliche Sachleistung der GKV daher nicht geschuldet sei. Laut Freiburger Sprachtest läge das Sprachverstehen mit dem von der Klägerin gewünschten Hörsystem nur 5 % über dem Sprachverstehen mit dem eigenanteilsfreien Hörsystem. Dies bedeute aber eine Abweichung von nur einem Wort. Die Klägerin konnte auch nicht darauf verweisen, dass sie mit dem gewünschten Hörsystem subjektiv besser höre. Das Landessozialgericht (LSG) sah den Nachweis der Gleichwertigkeit beider Hörsysteme als erwiesen an, da es sich bei dem Freiburger Sprachtest um ein normiertes Sprachtestverfahren handele. Das subjektive Empfinden der Klägerin sei unbeachtlich, da die vorhandenen Komfortmerkmale zwar das Hören für sie komfortabler mache, hierfür sei die GKV jedoch nicht zuständig. Diese schulde lediglich den notwendigen Behinderungsausgleich, welcher jedoch bereits mit einem aufzahlungsfreien Hörsystem sichergestellt werden könne.

Die Klägerin habe gegen ihre Krankenversicherung auch keinen Anspruch auf Leistung der begehrten FM-Anlage, denn die GKV schulde allein das Grundbedürfnis auf ausreichendes Hören. Dass die FM-Anlage für das generelle Grundbedürfnis der Klägerin auf ausreichendes Hören im Alltag erforderlich sei, verneinte das LSG. Der Einsatz einer FM-Anlage im Alltag erscheine lebensfremd, insbesondere da die Klägerin zu deren Nutzung stets acht Handmikrofone bei sich führen und verteilen müsste. FM-Anlagen im privaten Bereich seien nach der Hilfsmittel-Richtlinie lediglich dann erforderlich, wenn trotz bestmöglicher Hörgeräteanpassung im Freifeld kein offenes Sprachverständnis mehr erreicht werden könne. Eine solch ausgeprägte Schwerhörigkeit habe bei der Klägerin jedoch nicht vorgelegen.

Das Landessozialgericht verneinte schließlich auch einen Anspruch gegen die Rentenversicherung, denn im Hinblick auf die Tätigkeit der Klägerin in der Erwachsenenbildung fehle es an einer besonderen beruflichen Betroffenheit. Die Unterrichtung von Erwachsenen sei nicht mit außergewöhnlichem Störlärm verbunden, der über den Störlärm im Alltag hinausginge. Auch die begehrte FM-Anlage sei zur Berufsausübung der Klägerin nicht notwendig, da weder größere Entfernungen zu überwinden seien, noch ein besonderer Störschall im Unterricht auftrete. Gleiches gelte für die begehrte automatische Richtmikrofontechnik, da im beruflichen Umfeld der Klägerin nicht mit häufig wechselnden Hörsituationen zu rechnen sei. Damit aber könne der Klägerin der manuelle Wechsel in das Richtmikrofonprogramm zugemutet werden. Gleiches gelte für die 360-Grad-Funktion. Das Gericht erkannte auch keine Gefahr von außergewöhnlichem Störlärm oder plötzlich auftretendem Impulsschall in der Erwachsenenbildung und verneinte daher ebenfalls die Notwendigkeit für das Zusatzprogramm „Verstehen im lauten Störgeräusch“ sowie für die begehrte automatische Impulsschallunterdrückung. Schließlich bestand nach Auffassung des Gerichts auch keine berufliche Notwendigkeit für die Komfortfeatures freihändiges Telefonieren und Windgeräuschunterdrückung. Die Klägerin musste die begehrte FM-Anlage sowie die Zusatzfeatures des Hörsystems daher letztlich auf eigene Kosten erwerben.

 

Für die Praxis

Das Urteil des Landessozialgerichts zeigt wieder einmal, welch hohe Hürden an die Berufsbedingtheit einer begehrten Sonderausstattung gestellt werden; denn viele als außergewöhnlich empfundene Hörsituationen im Beruf unterscheiden sich im Ergebnis nicht wirklich von denen im Alltag. So findet auch das Gespräch im Restaurant unter Störlärm statt. Da der Restaurantbesuch jedoch in der Freizeit erfolgt, wird diesem Störlärm weniger Aufmerksamkeit gewidmet als dem vergleichbaren beruflichen Störlärm.

Für normalen Störlärm ist die Rentenversicherung jedoch nicht zuständig. Hier bewegt man sich allein im Bereich der Sachleistung durch die gesetzliche Krankenversicherung. Diese aber schuldet lediglich eine ausreichende, notwendige und zweckmäßige Versorgung, die das Maß des Notwendigen nicht überschreitet. Ob ein aufzahlungspflichtiges Hörsystem tatsächlich notwendig ist, entscheidet sich allein nach der erzielbaren Hörverbesserung und nicht nach dem subjektiven Empfinden. Wird mit dem eigenanteilsfreien Hörsystem ein vergleichbares Sprachverstehen ermöglicht wie mit dem aufzahlungspflichtigen, muss die gesetzliche Krankenversicherung mangels Notwendigkeit keine höheren Kosten übernehmen. Dabei besteht eine Vergleichbarkeit auch dann, wenn sich in den Mess­ergebnissen mit dem Freiburger Sprachtest geringfügige Abweichungen ergeben: Ein Unterschied im Sprachverstehen von lediglich 5 %, also einem einzigen Wort, stellt nach dem Landessozialgericht Baden-Württemberg noch kein deutlich schlechteres Sprachverstehen dar, sondern entspricht einer normalen Messtoleranz.

Aber Achtung: Der Hörakustiker ist nach den vertraglichen Vorgaben verpflichtet, dem Versicherten ein aufzahlungsfreies Hörsystem zum bestmöglichen Ausgleich seiner Hörminderung anzubieten. Dies gilt nur dann nicht, wenn der Versicherte, soweit vertraglich möglich, auf die Ausprobe eigenanteilsfreier Hörsysteme verzichtet. Ist das mehrkostenpflichtige Hörsystem im Vergleich also deutlich besser als das aufzahlungsfreie Hörsystem, muss zwingend ein weiteres vergleichbares aufzahlungsfreies Hörsystem getestet werden, so lange, bis die Messergebnisse im Rahmen der vertraglich vorgesehenen Messtoleranz vergleichbar sind.

Das Urteil zum Fall lesen Sie hier

Alexandra Gödecke, Juristin, Abteilung Soziale Sicherung, Bundesinnung der Hörakustiker (biha) KdöR

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